"Morgentau perlt im Licht"
Literarische Schreibwerkstatt im Kunstmuseum
Schon zum zweiten Mal war die Ausstellung mit dem Titel "Parlament der Pflanzen" Anlass für eine Kooperation des Kunstmuseums Liechtenstein mit dem Liechtensteinischen Gymnasium.
Nach einer Ausstellung von Schülerarbeiten, die im Kunstunterricht bei Hannes Albertin entstanden waren, fand am Vormittag des 27. Oktobers ein Workshop für die Klasse 6LSb statt, der von Anna Ospelt, einer ehemaligen Schülerin des LGs, sowie von Susanne Kudorfer vom Kunstmuseum professionell vorbereitet worden war. Mit dem Band "Wurzelstudien" hatte Anna Ospelt kürzlich ihr Debüt als Lyrikerin gegeben.
Nach einer kurzen Führung durch die Räume der Ausstellung und einem Eindruck von der Vielfalt der zu betrachtenden Werke versammelte sich die Klasse in einem der weiten hellen Säle des Museums im Halbkreis um einen Bildschirm, auf dem – coronabedingt nur virtuell – Anna Ospelt zugeschaltet wurde. Sie erläuterte zunächst die altjapanische Tradition der Kettengedichte, die heute in den sog. Renshis weiterlebt.
In Gemeinschaftsarbeit entstehen dabei "aufeinander reagierende" Haikus, das sind ursprünglich dreizeilige Gedichte, bestehend aus genau 17 Silben. Diese Haikus verlangen Gegenwärtigkeit, Aufmerksamkeit und genaues Hinschauen – Anregungen aus der Natur gab es dafür in der Ausstellung viele. Dann sollte möglichst konkret sowie ohne Bezug auf die persönliche Befindlichkeit ein Erlebtes niedergeschrieben werden: reimlos, überschriftslos, im Deutschen 12 bis 20 Silben lang.
Immer zwei Schüler und Schülerinnen arbeiteten zusammen – während der eine Partner für ein Haiku Anregungen aus der Ausstellung holte, schrieb die Partnerin drei Zeilen nieder, ein Gong markierte den Wechsel, der zu insgesamt acht Strophen eines Kettengedichtes führte.
Der Vormittag endete mit einer Reinschrift und der Lesung der Gedichte vor den gestrengen Augen und Ohren von Anna Ospelt, die sich von den Arbeiten erfreut zeigte. Was von der Ausstellung den Weg ins Gedicht gefunden hat? Die folgenden Beispiele geben davon einen Eindruck …
Pflanzen kommen zurück
Alter Beton wird schwach
Grün siegt über Grau
Mumifizierte Körper
Ausgestellt auf Stelzen
Hoch in der Luft
Selbst im Sommer
wacht der Stein nicht auf
ewig in sich ruhend
Pusteblumen neben den
Rändern der Gräber
wandern mit jedem Luftstoss
Steine, bedeckt mit Moos
Käfer krabbeln hinauf
suchen den Gipfel
Scherbenkiste
drei Ebenen windschiefes Gestell
Blau duftet unten
Text: Renate Gebele Hirschlehner
Fotos: LG Bildarchiv / Kunstmuseum Liechtenstein
Bildergalerie: "Morgentau perlt im Licht"